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Die Reform des europäischen Strommarktes und ihre zentralen Begriffe – Teil 1: das Merit-Order-Modell

26.07.2023

Die Zeichen am europäischen Strommarkt stehen auf Veränderung. Am 19. Juli 2023 hat der EU-Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie (ITRE) den Gesetzesvorschlag zur Änderung der Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie nach langem Ringen angenommen und die Reform des europäischen Strommarktes weiter vorangetrieben.


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Grundbegriffe der Strommarktreform

Um das Reformvorhaben zu verstehen, ist es unerlässlich, einige grundlegende Begriffe zu kennen. Deshalb möchten wir in einer mehrteiligen Blog-Reihe genau diese Begriffe näher betrachten und erläutern. Den Anfang machen wir mit dem Preisbildungsmechanismus am europäischen Strommarkt, dem Merit-Order-Modell.


Das Problem mit der Preisbildung

"Man ist nicht glücklich mit dem Strommarkt, weder in Deutschland noch in der EU insgesamt.", schreibt Dr. Miriam Vollmer auf dem Blog der Kanzlei re|Rechtsanwälte – und wer wollte ihr widersprechen? Gründe zur Unzufriedenheit gibt es genug. Insbesondere die Schwächen des Merit-Order-Modells als Preisbildungsmechanismus sind im vergangenen Jahr deutlich zutage getreten.


Worum geht es?

Das Merit-Order-Modell ist eine Methode zur Preisbildung auf dem Strommarkt. Die Grundidee besteht darin, dass Kraftwerke, die Strom günstiger produzieren können, zuerst eingesetzt werden, um die Nachfrage zu decken. Teurere Kraftwerke kommen erst hinzu, wenn die Nachfrage dies erfordert.

In einem einfachen Merit-Order-Modell werden die Stromerzeugungsarten nach aufsteigenden variablen Kosten sortiert. Die günstigsten Quellen wie erneuerbare Energien (Wind, Sonne) und Kernenergie stehen an erster Stelle, während teurere Quellen wie Kohle und Gas am Ende der Reihe stehen.

Das Merit-Order-Modell ist kein Gesetz oder eine Vorschrift. Es ist vielmehr ein ökonomisches Modell, das die Funktionsweise von Strommärkten und die Preisbildung erklärt. Das Modell basiert auf der Annahme, dass Stromerzeuger:innen ihre Energie in der Reihenfolge der Grenzkosten anbieten – von den niedrigsten bis zu den höchsten.


Wie der Strompreis entsteht – die Rolle des Market-Clearing-Price (MCP)

Der Market-Clearing-Price (MCP) oder Markträumungspreis spielt eine wichtige Rolle in der Preisbildung im Rahmen des Merit-Order-Modells. Der MCP ist der Preis, bei dem die Menge an Strom, die die Erzeuger:innen bereit sind zu liefern, genau der Menge an Strom entspricht, die die Verbraucher:innen nachfragen.

In einem Strommarkt, der nach dem Merit-Order-Modell funktioniert, wird der MCP durch das teuerste Kraftwerk bestimmt, das zur Deckung der Nachfrage noch benötigt wird. Alle Kraftwerke, die zu diesem Preis oder darunter Strom produzieren können, werden in Betrieb genommen und erhalten den MCP für ihren produzierten Strom, unabhängig von ihren tatsächlichen Produktionskosten.

Dieses Modell führt zu einem scheinbar paradoxen Ergebnis: Wenn teurere Kraftwerke (wie Gas- und Kohlekraftwerke) zum Einsatz kommen, weil die Nachfrage hoch ist oder weil nicht genug Strom aus billigeren Quellen (wie Wind- und Solarenergie) zur Verfügung steht, steigt der MCP. Und obwohl die erneuerbaren Energien in der Regel günstiger produzieren können, erhalten sie den erhöhten MCP für ihren Strom. Dies erklärt, warum hohe Gas- und Kohlepreise dazu führen können, dass auch der Strom aus erneuerbaren Quellen teurer wird.


Die Vorteile des Merit-Order-Modells

Was – gerade nach den Erfahrungen aus dem letzten Jahr – widersinnig klingen mag, hat tatsächlich auch einige potenzielle Vorteile:



Effizienz: Das Merit-Order-Modell fördert die effiziente Nutzung von Ressourcen. Da die Energieerzeuger:innen mit den niedrigsten Grenzkosten zuerst zum Zuge kommen, wird sichergestellt, dass die kostengünstigsten Energieträger zuerst genutzt werden.


Transparente Preisbildung: Das Merit-Order-Modell bietet eine transparente Methode zur Preisbildung. Da der Preis nach den Grenzkosten des letzten benötigten Kraftwerks festgelegt wird, können die Marktteilnehmer:innen den Preisprozess nachvollziehen und ihre Entscheidungen darauf basieren.


Förderung erneuerbarer Energien: Durch das Merit-Order-Modell werden erneuerbare Energien bevorzugt, da sie in der Regel geringere Grenzkosten haben als fossile Kraftwerke. Solange genug Wind- oder Sonnenenergie zur Verfügung steht, werden diese bevorzugt genutzt, was zu einer Senkung des Strompreises führen kann.


Anreiz für technologische Innovation: Das Merit-Order-Modell schafft Anreize für Innovationen und Effizienzsteigerungen. Unternehmen, die ihre Grenzkosten senken können, werden höhere Gewinne erzielen, da sie einen höheren Marktanteil gewinnen.


Unvorhergesehene Einflüsse auf den Strompreis

Das klingt in der Theorie also gut, hat aber einen mittlerweile recht offensichtlichen Haken: Wenn die Preise für fossile Energieträger aus unvorhergesehenen Gründen steigen, steigen die Betriebskosten der entsprechenden Kraftwerke. Da diese Kraftwerke oft die "letzten" sind, die zum Netz hinzugeschaltet werden (dank des Merit-Order-Prinzips), bestimmen sie den Preis für den gesamten Markt. Selbst wenn ein Großteil des Stroms aus erneuerbaren Quellen stammt, führen hohe Preise fossiler Energieträger in diesem Fall also allgemein zu höheren Strompreisen.

Genau das ist im letzten Jahr infolge des russischen Angriffskriegs gegen Ukraine geschehen und hat zu explodierenden Preisen auf dem Energiemarkt geführt.

Damit wären wir also bei einem der wesentlichen Gründe, warum der europäische Strommarkt als reformbedürftig betrachtet wird. Worin die angedachten Reformschritte bestehen und wie sich möglicherweise auf die Verbraucher:innen auswirken, schauen wir uns in den nächsten Beiträgen an.